Man muss sich schon gelegentlich an den Kopf fassen ob so manchen orgastischen Loblieder, die da landauf-landab für die Piratenpartei gesungen wird, die dann, wie es sich gehört, vornehmlich von eigenem Wahlvolk im Stile von feuchtfröhlichen Wikingerbesäufnissen bejubelt werden. Da ist es eine Frage der Zeit, bis auch so manch Journalist diesem Trubel erliegt.
Anders kann ich das Geschriebel von Sebastian Christ, Journalist bei stern.de und, laut Beschreibung, “immer nostalgisch werdend, wenn er historische Rededuelle auf Phoenix schaut”. Jedenfalls meint er im “Wahlfisch”-Blog von stern.de, dass jetzt die Piraten kämen und führt eine Reihe von seltsamen Argumenten auf (bei denen mich übrigens fast am meisten stört, dass ich nach 18 Stunden offenbar erst der erste Blogger bin, der sich das Pamphlet einmal näher zur Brust nimmt):
Einen kleinen Schrecken dürfte die Zahl von fast 7.000 Mitgliedern bei der Piratenpartei bei den etablierten Parteien ausgelöst haben – meint er. Damit werde sie “bald nach CDU, SPD, CSU, FDP, der Linken und den Grünen die siebtgrößte Partei Deutschlands sein.” Aha. Zahlen gefällig?
Mitgliederzahlen zum Stichtag 31. Dezember 2008:
- SPD: 520.969 Mitglieder
- CDU: 528.972 Mitglieder
- CSU: 162.533 Mitglieder
- FDP: 65.600 Mitglieder
- Die Grünen: 45.192 Mitglieder
- Die Linke: 76.031 Mitglieder
Macht unter dem Balken zum 31. Dezember 2008 eine Gesamtzahl von rund 1,4 Millionen Parteimitgliedern, allein in den sechs größten Parteien. Die “siebtgrößte Partei Deutschlands” hat, wenn man also die 1,4 Millionen Menschen als Basis nimmt, also immerhin schon mal etwa 0,5 Prozent von diesem Kuchen. Das ist die Liga, in der die NPD mitspielt. (Achtung, ich sage es gleich, ich bin sehr, sehr weit davon entfernt, die Piratenpartei hier inhaltlich mit der NPD zu vergleichen.)
Sebastian Christ legt nach diesem sehr anschaulichen Hochjubeln von nicht vorhandenen Argumenten erstaunlicherweise weiter nach im angeblichen Erfolg der Piratenpartei:
“Und es werden immer mehr Menschen, die sich den Piraten anschließen. Die „Zeit“ hat unter anderem dazu in dieser Woche ein interessantes Dossier veröffentlicht (das, nebenbei bemerkt, im krassen Gegensatz zu den vielen netzkritischen Artikeln der vergangenen Monate steht). Demnach treten der Piratenpartei jeden Tag 80 Menschen bei, während die SPD täglich 30 Mitglieder verliert. In Meinungsumfragen liegen die Piraten nach Informationen der „Zeit“ bei zwei Prozent.”
Da wollen wir doch auch mal nachrechnen. Nehmen wir bei der SPD mal eine aktuelle Mitgliederzahl von 515.000 Parteimitgliedern an und legen wir da den Maßstab von täglich 30 abgehenden Mitgliedern an, wäre die SPD in etwa 47 Jahren mitgliederlos. Wollte die Piratenpartei 515.000 Mitglieder bei einen angenommen immer gleichbleibenden Mitgliederzuwachs von 80 zugehenden Mitgliedern pro Tag erreichen, bräuchte sie über 17 Jahre dafür – mit genau dem ununterbrochen gleichen Hype, wie derzeit.
Hanebüchen? Genau. Denn hätte Sebastian Christ etwas von der Materie verstanden, hätte er sich am ehesten die Grünen als Vergleich herangezogen, die ebenfalls nach wie vor als Schwerpunktpartei gilt. Die Piratenpartei mit der SPD zu vergleichen, ist in etwa so sinnvoll wie der Vergleich einer Johannisbeere mit einem Kürbis.
Sebastian Christ ist fertig? Nein, er legt sich weiter ins Zeug und führt jetzt Gründe auf, warum er den Einzug der Piratenpartei in den Deutschen Bundestag nicht für wahrscheinlich halte, aber auch nicht für ausgeschlossen:
“Die Schwäche der etablierten Parteien trägt zur Demobilisierung ganzer Wählerschichten bei. Die CDU setzt dem Ganzen sogar noch die Krone auf: Sie versucht sogar ganz bewusst, die Wahlbeteiligung zu drücken. Ziel der Nichtwahlkampf-Strategie von Angela Merkel ist es, die SPD-Wähler von der Urne fern zu halten. Durch Nullkommunikation und vage Forderungen soll den Sozialdemokraten jegliche Chance genommen werden, einen polarisierenden Wahlkampf zu führen. Die Piratenpartei dagegen schöpft aus einem Reservoir von motivierten Anhängern, die sehr wahrscheinlich zur Wahl gehen und wissen, wo sie ihr Kreuzchen machen werden.”
Aha. Nach derzeitigen Prognosen ist es allerdings so, dass die SPD trotz ihrer derzeitigen Schwäche mit einem derzeitigen Umfrageergebnis von 23 % (ARD-Deutschlandtrend vom 27. August) immerhin über zehnmal so viel Prozentpunkte aufführt, als sehr vage Projektionen der “Zeit”, die die Piratenpartei auf 2 % schätzt. Dieser Wert ist allerdings sehr umstritten, da generell Projektionen von Parteien unter 5 % bei üblichen Umfragen nicht sehr aussagekräftig sind. Dazu drechselt sich Sebastian Christ dann eine ganz andere Argumentation zurecht:
“Weil repräsentative Meinungsumfragen den riesigen Unmut über die etablierten Parteien schlecht abbilden können (daher auch die hohe Anzahl der „unentschlossenen Wähler“), liefern sie auch keine realistischen Aussagen über die tatsächlichen Wahlchancen der Piratenpartei. Es bleibt bis zum Schluss spannend.”
Er hat nun fertig. Nein, hat er nicht, er wirft weitere Argumentationen in den Ring, warum die Piratenpartei einfach zum Erfolg verdammt sein muss:
“Die Piratenpartei ist die Protestwahl des jungen, gebildeten Bürgertums. Gerade wer in den 90er Jahren politisch sozialisiert wurde und daher die Zeit der ideologischen Konfrontation verpasst hat, gibt viel weniger auf die Bindung zu den etablierten Parteien. Da Nichtwählen die Ultima Ratio für jeden politischen Menschen ist und die radikalen Parteien stinken, könnte die Piratenpartei mit ihrem an freiheitlichen und bürgerrechtlichen Idealen Programm eine Ventilfunktion einnehmen.”
So. Sebastian Christ geht jetzt von folgendem Szenario aus. Das “junge, gebildete Bürgertum”, also an sich Hausklientel der CDU/FDP bzw. der Jungen Union respektive der Jungliberalen, hat in den 1990er Jahren eine ideologische Konfrontation durch das stetige Wegfallen der Klassendenke verpasst und ist so deshalb viel weniger auf Bindungen zu den Parteien fixiert.
Das heißt, wenn ich Christ da so recht verstehen soll, dass das “junge, gebildete Bürgertum” sich ungefähr 20 Jahre lang nicht politisch betätigt hat, ob nun konservativ auf Seiten von CDU/FDP oder eher links auf Seiten von SPD/Grüne/Linke, weil sie schlicht und einfach gewartet hat, bis die Piratenpartei “mit ihre freiheitlichen und bürgerrechtlichen Idealen” kommt und sie abholt. Wau, das ist eine Schlussfolgerung, die jegliche politische Jugendarbeit der letzten 20 Jahre – die es nachweislich auch gab – komplett in drei Sätzen wegdiskutiert.
Im nächsten Argumentationsblock beschäftigt sich Christ mit der FDP, der er vorwirft, dass “ihr einstiger Markenkern [Anmerk. d. Autors: Bürgerrechte] ausgehöhlt wurde”. Könnte man so stehenlassen, ist immerhin nicht ganz so falsch, auch wenn der Kampf für die Bürgerrechte im Falle der FDP eher ein “Abfallprodukt” des Liberalismus ist, der sich ja von der Intention damit auseinandersetzt, möglichst wenig staatsregulierend zu sein. Dass Bürgerrechte jedoch auch kausal im Zusammenhang mit der Deregulierung von Märkten in Bewegung sein können und deshalb die FDP im Bereich Bürgerrechte letztendlich nur den Status Quo haben können oder eben versagen, ist kein Zufall, sondern das ist der Nachteil dieser Ideologie. Ein spezielles FDP-Problem der letzten Jahre ist es jedenfalls nicht.
Die letzte Partei, die Christ dann noch auseinanderfaltet, ist vielleicht für die Piratenpartei der größte Konkurrent, weshalb es hier einfach mal ganz pragmatisch zu Werke geht und den Grünen konstatiert, dass sie “im Zeitraffer gealtert” sind und als ehemalige “Anti-Parteien-Partei” nun “Teil des Systems” seien. Sie seien zwar “immer noch gut darin, junge und trendfähige Themen aufzugreifen”, aber letztendlich “längst den Altparteien allzu ähnlich geworden”. Das hätte ich jetzt eigentlich eher als Umschreibung für die Linke erwartet, da die Grünen eigentlich nach wie vor die Partei ist, die sich das Parteileben immer noch am schwersten macht und sich regelmäßig einnordet, aber wen jucken solche Feinheiten hier am Ende des Traktates von Sebastian Christ noch?
Denn die eigentliche Conclusion kommt nun jetzt und eigentlich hätte sich Sebastian Christ einen großen Gefallen damit getan, wenn er einfach nur diesen Absatz geschrieben und sich alle vorherigen erst gar nicht herausgequält hätte:
“Die Volksparteien haben nicht nur das Thema Internet verschlafen. Sie haben auch ganz allgemein zu wenig Online-Kompetenz und sind ignorant gegenüber den Ansprüchen und Wünschen der „Digital Natives“. Wer mit dem Netz groß geworden ist, betrachtet es als natürlichen Teil seiner Alltagsumwelt. Und nicht als „rechtsfreien Raum“.”
Das ist so richtig – für so Leute wie mich, möglicherweise Sebastian Christ, vielen Lesern dieses Blogs, aber weit weitem nicht allen, geschweige denn dem Groß der Gesellschaft. Das Thema Netzpolitik ist sicherlich in unserer Zeit nicht ganz unwichtig und wird im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte zu einem immer größeren Thema. Auch ich finde Zensursula schlimm, weil es eine sehr ureigene Aufgabe des Staates, nämlich sein Volk zu beschützen, mit sehr ungesunden Mitteln zu erreichen versucht.
Machen wir uns aber nichts vor: Mit dem gleichen Dummschwatz, wie es die Zensursula-Protagonisten tun, sollten wir es nicht probieren. Damit machen wir es unseren Gegnern viel zu einfach, uns öffentlich abzukanzeln. Respekt gibt es in der Politik nur unter Gleichwertigen, Koalitions- oder Oppositionspartnern und selbst da ist der Respekt teuer erkauft und selten homogen.
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