Die russische Netzkünstlerin Professor Olia Lialina hat im Oktober in einem Telepolis-Artikel über das „volkstümliche Web“ eine interessante Feststellung gemacht: Sie sagt, dass das Web, so wie es heute existiert, zu einem Großteil deshalb so ist, weil es viele Menschen in der Vergangenheit gab, die mit privaten Homepages das Internet bzw. das Web geentert haben. Den kulturelle Einfluss dieser Homepages sieht sie als viel stärker an, als die technischen Weiterentwicklungen von Browsern und Protokollen. Wohlgemerkt: Wir reden hierbei von privaten Homepages, also von gif-animatorisch blinkenden, grellfarbenen Ungetümen, überladen mit Familienfotos und Informationen über die abstrussesten Hobbies, die man nur haben kann.
Auf den ersten Blick ist diese These nur schwer zu ertragen, wenn man sich die Schrecklichkeit so mancher privaten Homepage aus der damaligen Zeit wieder zurückruft. Genügend solcher Seiten gibt es ja noch, einen kleinen, augenzwinkernden Rückblick kann man sich mit einem witzigen Add-On für Firefox namens Tobi’s Timemachine von Tobias Leingruber geben (installieren und dann im Menü Extras mit „Timemachine: Switch ON/OFF“ entsprechend schalten).
Interessant an Lialinas These ist, dass sie dem „Web 1.0“ eigentlich das zuschreibt, was dem Web 2.0 zugeschrieben wird, nämlich das so genannte „Mitmach-Web“ – mit einem kleinen Unterschied:
„Web 2.0-Propagandisten erzählen uns ununterbrochen, wie mächtig und vielfältig die heutigen Webamateure endlich sind, wie toll sie tanzen, Lieder schreiben, enzyklopädische Artikel verfassen, Fotos und Videos schießen, irgendwelchen Inhalt produzieren und anschließend alles ins Internet stellen. Dennoch stehen sie dem Web gleichgültig gegenüber.“
Sehr bestechend! Und eigentlich, wenn man recht darüber nachdenkt, eine Feststellung mit einem gewaltigen Rattenschwanz. Denn wenn ich in meiner „Web-Geschichte“ zurückblicke, war meine (designtechnisch wirklich absolut üble) erste Homepage ein Sammelsurium von Dingen, von denen ich glaubte, dass ich sie gut kennen würde und dass ich das anderen Leuten vielleicht zeigen könnte. Das war ganz am Anfang ein kleines und technisch vollkommen überladenes Häufchen Text, das eine Erklärung zum Mobilfunkstandard GSM geben wollte und eine simple Seite mit einigen Tipps zu Windows 95, die nun wirklich an jeder Ecke im Netz gefunden werden konnten. Aber, was soll’s? Es hat Spaß gemacht und man kam sich vor wie ein kleiner Heilsbringer, weil man eben das machen konnte, zu dem man bisher nicht in der Lage war: Zu publizieren. Und das ist eine lupenreine Kernthese von Web 2.0.
Gut, könnte man sagen, okay, dann publiziere. Aber warum muss man das ausgerechnet mit fürchterlichen Farbkontrasten und albernen GIF-Animationen tun? Kann man es nicht systematischer tun? Einfach stringenter, systematischer?
„Im ersten Moment scheint diese Frage eine rein ästhetische zu sein. Man könnte meinen, sie sei fast unwichtig. Tatsächlich gibt es aber nichts, was den allgemeinen Zustand des Webs und ganz besonders den von Diensten, die der Web 2.0-Ideologie folgen, so deutlich macht, wie die Ästhetik und die Aufmachung von Homepages, die von gewöhnlichen Usern gestaltet wurden.“
Diese Sätze haben es wirklich in sich, es lohnt sich deshalb, sie zu verstehen und auseinander zu dividieren: Tatsächlich sehen wir in privaten, unglaublich unästhetischen Homepages zunächst eine mehr oder weniger große Menge an Unprofessionalität, so wie nun mal ästhetische Gesichtspunkte in besonders krassen Disharmonien den Blick auf das Wesentliche behindern können. Der Kernsatz besagt jedoch, dass genau diese Welt, also eben auch diese Unprofessionalität, das Web kennzeichnet und charakterisiert. Dieser Mangel jedoch dadurch wettgemacht wurde, dass die allermeisten Homepage-Besitzer ihre Mühen als Message verstanden, ein neues, vollkommen unentdecktes Medium zu entern. Diesen Punkt kann ich absolut nachvollziehen, es ist vermutlich die Kernmotivation aller Folks, die sich damals über die seltsame Auszeichnungssprache HTML hermachten und tatsächlich zauberten, auch wenn sie oft genug im Farbkasten einfach nur herumferkelten.
Eigentlich sehr interessant, nun aus diesem Blickwinkel das Web 2.0 zu betrachten, wie Lialina es tut:
„Homepages gibt es nicht mehr. Stattdessen gibt es andere Genres: Benutzerkonten, Profile, Journale, Kanäle, Blogs und individuell eingerichtete Startseiten.“
Im Prinzip, und jetzt mache ich mir sicherlich ein paar Feinde in der Web-2.0-Welt, ist das ein Rückschritt – eine Beschneidung der Fähigkeiten des Individuums, da ihm mit Web 2.0 gesagt wird, dass einzig der Inhalt zählt. Um das Aussehen soll sich der Inhaltslieferant nicht mehr kümmern, denn das liefert der Anbieter der Web-2.0-Plattform, weil er der Meinung ist, das wäre besser für die Entfaltung der Kreativität.
Eigentlich sehr einfache Thesen, die aber richtig schwere Kost sein können. Oder nicht?
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